Der lange Abschied von Bismarck: Deutschland, Europa auf dem Weg zur Wettbewerbsgesellschaft?

Veröffentlicht am 23.07.2011 in Veranstaltungen
 

Gisbert Kühner, Elfi Thompson, Dr. Stefan Kühner, Renate Schmidt, Lothar Binding

Am Ende des 19. Jahrhunderts, mit fortschreitender Industrialisierung, verschärfte sich die Notlage der Arbeiterschaft. Gleichzeitig wuchs der Zulauf zum Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) und zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), die sich 1875 vereinigten. Die neue Partei nannte sich 1890 SPD.

Der Reichskanzler Otto von Bismarck sah in den Sozialdemokraten eine Gefahr für die Autorität des Staates und reagierte mit einem „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, aber auch mit einer Sozialgesetzgebung, die bis in unsere Tage fortwirkt. So wurden 1883 die Krankenversicherung eingeführt, 1884 die Unfallversicherung und 1891 die Rentenversicherung. Nachdem die Sozialistengesetze, seit 1878 in Kraft, sozialdemokratische Ideen nicht ausrotten konnten hoffte Bismarck, der Sozialdemokratie mit dieser Sozialgesetzgebung ihre Existenzberechtigung, ihre Existenznotwendigkeit, zu nehmen.

Der Vater des Referenten, Gisbert Kühner, moderierte die Veranstaltung und führte seinen Sohn ein. Der gab einen Abriss der Geschichte des Sozialstaates. Grundidee sei es, der Bevölkerung Schutz gegen die Lebensrisiken – Krankheit, Arbeitslosigkeit, Altersarmut - zu bieten. Das tun die einzelnen Staaten auf unterschiedliche Weise: Vorwiegend in den englischsprachigen Ländern beschränkt sich der Staat auf ein Minimum an Fürsorge. Er sichert höchstens das Existenzminimum ab und überlässt alles darüber Hinausgehende privater Vorsorge. Die „liberale Variante“. Die skandinavischen Länder verkörpern das andere Extrem – weitgehende Fürsorge, Finanzierung aus Steuermitteln. Die „sozialdemokratische Variante“. Deutschland liege irgendwo dazwischen und werde fast vollständig aus Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert.

Dieses System war, nach Kühner, erfolgreich insbesondere in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wegen einer relativ jungen arbeitenden Bevölkerung, relativ wenigen Rentnerinnen und Rentnern und einer geringen Arbeitslosenzahl bis in die 70er Jahre. Das deutsche Sozialsystem förderte außerdem, nach dem Urteil des Soziologen Andersen, die Festlegung der Frau auf die Rolle der Hausfrau und Mutter.

Diese Rahmenbedingungen – auch für den Sozialstaat – haben sich aber geändert: Höhere Lebenserwartung erzwinge entweder höhere Beiträgen zur Rentenversicherung oder geringere Renten. Lange Schul- und Studiumszeiten und damit kürzere Beitragszeiten verschlechterten die Bilanz der Sozialversicherung. Die zunehmende Globalisierung befördere den Wandel und die nationalen Gestaltungsmöglichkeiten einzelner Länder, auch Deutschlands. Das „Ökonomische Dilemma“ – wirtschaftliches Wachstum bei gleichzeitig hohen Arbeitslosenzahlen – mache die Lage der Sozialsysteme immer prekärer. Deutschland sei näher an der „liberalen“ als an der „sozialdemokratischen Variante“, so Dr. Kühner. Versuche gegenzusteuern – Kürzung des Krankengelds, Erhöhung des Renteneintrittsalters, Schröders Agenda 2010 mit Hartz-IV und Erfindungen wie die Riester-Rente als privates Versorgungsinstrument scheinen die Gesellschaft immer näher in Richtung neoliberaler Wettbewerbsgesellschaft zu führen. Erst die Finanzkrise könnte sozialdemokratischen Ideen neue Chancen eröffnen. Die Vorteile eines starken Staates könnten wieder deutlicher werden und an Bedeutung gewinnen, so die Hoffnung von Stefan Kühner.

Lothar Binding bestritt die behauptete Nähe des deutschen Sozialstaats zur „liberale Variante“. Zunächst sei es heute falsch anzunehmen, die Sozialbeiträge würden nur von Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufgebracht. Es gab den Einstieg in die steuerfinanzierte Gesundheitsvorsorge und ein Drittel der Rentenfinanzierung, also mehr als 80 Milliarden Euro, kämen schon aus dem Bundeshaushalt, also dem Steuertopf. Auch die Bedeutung der Riesterrente als „private Vorsorge“ dürfe nicht überschätzt werden. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten mit hohem Wachstum und wenigen Alten lag das Versorgungsniveau für die Rentnerinnen und Renten bei 70 %. Mit zunehmender Arbeitslosigkeit, also geringeren Rentenversicherungsbeiträgen, stark zunehmendem Lebensalter – 1965 wurde ein Rentner etwa 7 Jahre finanziert, 2010 sind dies ca.17 Jahre – und viel späterem Eintritt in das Arbeitsleben, sei im alten System, dem Generationenvertrag, eine Lücke von etwa 3 % bis 4 % aufgetreten, sodass das Versorgungsniveau auf 66 bis 67 % abzusinken drohte. Solche rechnerischen Betrachtungen, wie auch die Gesetzgebung, beziehen sich immer auf den „Eckrentner“, also eine nicht mehr so oft anzutreffende Arbeitsbiografie, die von 45 Beitragsjahren ausging. Um diese Lücke von drei bis vier Prozent zu schließen, hätte man die Beiträge auf weit über 20 % anheben müssen, also die Lohnnebenkosten deutlich anheben. Aus Sorge um die Verlagerung von Arbeitsplätzen wurde dann der Riestervorschlag, diese Lücke von 3 % bis 4 % durch private – geförderte – Vorsorge zu schließen, aufgegriffen. „Drei oder vier Prozent aus 70 %“ dürfe man nicht überbewerten oder gar als Abkehr vom Umlagesystem interpretieren – 66 % bzw. 67 % seien schließlich noch im Generationenvertrag verankert. Und „66 ist doch ziemlich viel größer als 4“, so Binding. Ähnlich verhalte es sich mit der Rente mit 67 ab dem Jahr 2028. Ein System aus den Nachkriegsjahren bei einer Lebenserwartung, die 10 Jahre kürzer war als heute, sei heute unverändert nicht mehr finanzierbar. Ohne damalige Änderungen wäre das System zusammengebrochen – um es zu retten, wurden den Rentnern die Rentenzahlungen für 17 Jahre um zwei Jahre gekürzt. Notwendig sei es, diese Regel noch zu flexibilisieren, damit jemand, der aus Belastungsgründen schon vorher in Rente gehen sollte, dies auch kann und andere, die es wünschten, aber auch länger als bis 67 arbeiten könnten. Vielleicht sei noch interessant, dass mit dem (bismarckschen) Gesetz zur „Invaliditäts- und Altersversicherung“ vom 22. Juni 1889 die Regelaltersgrenze bei 70 Jahren lag. Erst um 1915 wurde sie auf 65 festgelegt, also zu einer Zeit in der nur ein kleiner Teil der Gesellschaft überhaupt älter als 65 wurde, die Renten kaum mehr als ein Taschengeld waren und der Drei- oder Viergenerationenhaushalt noch der Regelfall. Die Großmutter saß bei den Eltern mit am Tisch. Ein Problem sei heute die prekäre Lage vieler Arbeitnehmer. Einer der Gründe sei die Leiharbeit. Es sei gesetzlich geregelt, dass es gleichen Lohn für gleiche Arbeit geben soll: der Leiharbeiter also den gleichen Lohn erhält wie sein Kollege, der dauerhaft beschäftig ist. „Aber wir sozialdemokratischen Parlamentarier haben auf ausdrücklichen Wunsch der Gewerkschaften, wegen der Tarifautonomie, eine Ausnahme gemacht, um die Tarifautonomie und damit die Gewerkschaften zu stärken. Eine Auswirkung haben wir (ich auch) nicht gesehen: Dass sich Gewerkschaften aufmachten, um tariflich Dumpinglohne umzusetzen und damit unseren Grundsatz ‚gleicher Lohn für gleiche Arbeit’ zu untergraben“, so Binding.

Ein wichtiger Punkt sei auch das ALG II, oft Harz IV genannt. Früher gab es im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit Arbeitslosengeld (ALG), das waren mit einem Kind 67 % vom letzten Nettolohn, anschließend gab es Arbeitslosenhilfe (ALHI), (ein Kind) 57 % vom letzten Nettolohn. Arbeitslosengeld wurde aus der Arbeitslosenversicherung bezahlt, ALHI aus Steuern, aus dem Bundeshaushalt, unbegrenzt bis zum Renteneintritt. Diese steuerfinanzierte „Brücke der Arbeitslosigkeit bis zur Rente“ haben viele Unternehmen ausgenutzt um sich älterer Arbeitnehmer zu entledigen. Das war die Zeit des „Jugendwahns“ in den Betrieben. Auch dadurch stieg die Arbeitslosigkeit stark an und damit die Belastung des Bundeshaushalts durch die ALHI. Ein Teufelskreis, der das Gesamtsystem ins Wanken brachte, als die Arbeitslosenzahlen auf über fünf Millionen stieg. Häufig wurde der fehlende Lohnanteil durch ein wenig Schwarzarbeit, nein, Nachbarschaftshilfe, ausgeglichen. In dieser Situation – zur Rettung des Systems, wurden Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf das Niveau der Sozialhilfe zusammengelegt und als Arbeitslosengeld II bzw. Grundsicherung eingeführt. Vielleicht war dieser Lösungsansatz nicht der richtige, meinte Binding, aber das alte System brach zusammen – leider wurden diese Zusammenhänge damals nicht ordentlich erklärt. ALG II fiel vom Himmel und stieß auf Ablehnung. Gleichwohl: Entlassungen auf Kosten der Steuerzahler waren weniger lukrativ. Jedenfalls ernteten wir heute die Früchte dieser Reformen: Arbeitslosigkeit sinkt, Wachstum nimmt zu, das System ist gerettet. Aber: die zunehmende Spreizung der Einkommen von Arm und Reich – durch ständig sinkende Reallöhne und steigende Erträge aus Vermögen sei noch nicht überwunden, verschärfe sich sogar Jahr um Jahr. Hier sei einer harter Schnitt: durch Lohnsteigerung, auch Mindestlohn, einerseits und durch Besteuerung der Vermögenserträge andererseits, sicher unverzichtbar.

Eine lebendige Diskussion, in der auch die Globalisierung als eine Ursache für bestimmte Probleme identifiziert wurde, schloss sich an, in der auch von der SPD Vorschläge für ein zukunftssicheres Sozialsystem eingefordert wurden. Diese sollten es erlauben, das Fragezeichen im Veranstaltungstitel zu streichen.
Dieter Lattermann

 

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